Gastbeitrag: Gelassenheit beginnt im Kopf – Teil I

Gastbeitrag von meiner Mama, Gabi Rieß. Ihre Erkenntnisse lassen sich wundervoll auf den Bereich der Gesundheit übertragen. Ich erkenne immer mehr, dass Krankheit und unangenehme Symptome nicht etwas sein müssen, das bekämpft, vermieden und beseitigt werden muss, sondern auch etwas sein kann, das einen innehalten lässt und vielleicht dazu zwingt, mal Inventur in seinem Leben zu betreiben. Doch wie erreiche ich dieses Stillewerden, wie erreiche ich die nötige Gelassenheit?

 

Wie ich denke, so fühle ich

Die meisten Menschen machen die Erfahrung, dass es ständig auf und ab geht. Man macht Pläne aber dann kommt alles anders. Ständig muss man reagieren und die Träume von einem angenehmen, entspannten Leben bleiben mehr und mehr auf der Strecke. Man befindet sich in einem Wechselbad der Gefühle statt im Hier und Jetzt zu leben.

Arbeitslosigkeit, Stress in Familie und Beruf, Finanzkrisen, Umweltkatastrophen und vieles mehr, sowie die großen und kleinen Herausforderungen des Alltags rütteln tagtäglich an unseren Nerven, rufen Angst, Gefühle der Hilflosigkeit oder gar Panik hervor, bringen uns in Unruhe und manchmal Depressionen. Wir wünschen uns, dass uns diese Gefühle erspart bleiben stattdessen möchten wir:

  • endlich mal zur Ruhe kommen und nicht Tag und Nacht Probleme wälzen
  • die richtige Einstellung zu den Problemen finden und in herausfordernden Situationen den Überblick behalten, einen kühlen Kopf bewahren und so souverän und handlungsfähig bleiben
  • Probleme entschlossen und zuversichtlich anpacken statt vor ihnen davon zu laufen, oder den Kopf in den Sand zu stecken

Gelassenheit in schwierigen Zeit ist erstrebenswert und eine echte Herausforderung. Wie können wir lernen:

  • Auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben, alles in Ruhe zu bewerten, was auf uns zukommt, von vornherein vieles gelassener zu sehen und uns schneller zu beruhigen?
  • Abzuschalten und uns erholen wann immer wir es wünschen?

Wir können den Problemen eine neue Bedeutung geben und sie so zum Ausgangspunkt eines besseren Lebens machen, das unseren Bedürfnissen und Wünschen mehr entspricht.

Ein Problem, das sich nicht sofort lösen lässt, ist wie ein Lehrer, der ständig an deiner Seite ist. Wieviel du dadurch lernst, hängt einzig und allein davon ab, wie lernwillig du bist. ~Sarah Young

 Wenn wir die widrigen Ereignisse und Umstände als gute Trainer begreifen, die uns aus der Bahn werfen wollen, können wir sie als „sportliche“ Übung sehen. Unsere Aufgabe ist es dann, trotz der Probleme das innere Gleichgewicht zu halten und durch dieses Training immer stärker zu werden und zu wachsen. Wir können uns mit unseren Gedanken, Überlegungen, Phantasien Stress bereiten. Ebenso sind wir in der Lage, mit Hilfe der Gedanken innere Gelassenheit zu schaffen.

Bereits der Philosoph Epiktet, der mit anderen die Philosophie der Stoiker (stoische Ruhe) entwickelte sagte vor 2000 Jahren:

Nicht die Dinge selbst, sondern ihre Vorstellung von den Dingen beunruhigt die Menschen. ~Epiktet

Eine neue Richtung der Psychotherapie, die „Kognitive Verhaltenstherapie“, greift die Grunderkenntnisse der Stoiker auf. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass diese sich sehr gut zur Behandlung von Ängsten und Depressionen eignet. Auch andere Verfahren zur Entspannung und Stressabbau können helfen, wenn eine wichtige Erkenntnis dazu kommt:

Gelassenheit beginnt im Kopf

Unsere erlernten Denk-, Gefühls- und Verhaltensmuster sind durch andauernde Wiederholung wie mit uns verwachsen. Es kommt zu einer Identifikation mit unseren Stressmustern, wir glauben irgendwann ohne sie nicht wir selbst zu sein und folgen ganz mechanisch diesen alten Mustern. Aber man hat die Wahl!

Man kann von der Automatik auf Handbetrieb umschalten, d.h. neue Muster lernen und durch zahlreiche Wiederholungen neue Gewohnheiten einüben.

Das braucht Zeit, man muss am Anfang sehr aufmerksam sein, denn mit abgeschaltetem Verstand kann man nichts Neues lernen. Außerdem wird die Umgebung uns misstrauisch beobachten, kritisieren und alles tun, um uns wieder in die gewohnte Stressspur zu bringen. Das geschieht oft aus Unwissenheit, manchmal aus Neid, denn jeder gelassene Mensch ist eine Herausforderung für seine Umwelt, am Anfang auch für ihn selbst, weil ungewohnt. Ein Beweis, dass es auch anders geht.

Leiden ist also keine Selbstverständlichkeit, sondern auch die Folge bestimmter Denk- und Verhaltensweisen.

Statt eine einfache Verkettung von Ursache und Wirkung zu sehen, wehren  sich Menschen, die Angst vor Veränderung haben, mit der Frage auf; „Soll das heißen, dass ich an meinem Leiden selbst schuld bin?“ Aber darum geht es hierbei gar nicht.

Menschen neigen offenbar dazu, sich unglücklich zu machen. Wir haben eine Kultur entwickelt, in der Leiden eine große Rolle spielt. Das kommt in der Kunst, Malerei, Schauspiel, Tanz, Film, Musik und in Romanen ausgiebig zum Ausdruck, sowie in den verschiedenen Religionen.

Selbst im Christentum, obwohl es behauptet, die frohe Botschaft zu verkünden, liegt der Focus hauptsächlich auf dem leidenden Christus am Kreuz. Die Darstellung seiner Hinrichtung hat einen zentralen Platz in vielen Kirchen und erschwert den Gedanken an eine frohe Botschaft. Dabei ist das Kreuz nicht das Ende sondern Gottes unfassbarer Erlösungsplan für jeden, der diesen Gott sucht und in Überwindung des Todes und Hoffnung auf ein ewiges Leben ohne Leid gipfelt. Die einschüchternden, z.T. düsteren Kirchenbauten, in deren Räumen man sich nur flüsternd zu unterhalten und kaum zu lachen wagt, erwecken den Eindruck, dass wir es mit einem sehr ernsten Gott zu tun haben.

Dabei soll doch die Nähe zu Gott in die Ruhe führen, Entspannung und Freiheit, wie die Botschaft von der Erlösung verspricht. Alles andere als Stress, Bedrückung und Angst.

Es gibt Kirchengemeinden in denen die Mitglieder so unter dem Druck stehen, fromm und untadelig vor Gott und den Menschen zu stehen, dass ein sehr aktionsbestimmter und ehrgeiziger Glaubensstil gelebt wird. Ganz im Gegensatz zur Botschaft Paulus`, dass wir aus Gnade errettet sind und nicht über das hinausstreben sollen als was uns zukommt und nach dem Maß des zugeteilten Glaubens, besonnen zu leben (Röm 12). So scheint mancher selbstlose Einsatz und fromme Geschäftigkeit eher durch falschen Ehrgeiz statt durch den Heiligen Geist gewirkt zu sein. Wie viele Christen, gerade in leitenden Positionen, haben sich durch diesen Irrtum in die Burnout Falle getrieben oder treiben lassen.

Zum Glück gibt es auch hier Ausnahmen, in Form von christlichen Gemeinschaften, die lebendig und froh den christlichen Glauben präsentieren und überzeugend leben.

Wie finde ich zu einem entspannten Lebensstil und will ich das überhaupt?

Zuerst wäre es gut, zu überlegen, worauf es im Leben ankommt und dann worauf es mir im Leben ankommt. Geht es darum, viel Geld zu verdienen und so viele Dinge wie möglich zu sammeln? Die Ausbildung an einer Eliteschule, eine hohe berufliche Stellung. Zählen Alter, Herkunft, Geschlecht, Hautfarbe?

Was nützt mir das eine oder andere, wenn ich mit meinen Gefühlen nicht umgehen kann?

Die Schönheit der Natur oder das Zusammensein mit anderen nicht genießen kann? Weder Trauer, Ärger, Angst noch Glück und Ruhe ertragen kann? Wenn man seine Phantasien und verrückten Ideen nicht aushält? Unfähig ist, die eigene Unvollkommenheit und die der anderen Menschen gelassen hinzunehmen?

Gelassenheit zu lernen ist eine Herausforderung aber nicht unmöglich. Das Leben kann mit diesem Ziel vor Augen eine neue Bedeutung bekommen. Der Alltag, der ganz normale Wahnsinn bekommt einen Sinn. Die Ereignisse treten als Lehrer auf, die permanent versuchen, einen aus der Bahn zu werfen. Unsere Aufgabe besteht dann darin, im Gleichgewicht zu bleiben. An den Herausforderungen zu wachsen, unsere Grenzen zu erkennen, auszuhalten, dass wir manchmal „unseren Meister gefunden haben“. Man könnte meinen, wir sind alle hier, um Gelassenheit und Glück zu lernen. Wenn wir nicht lernen, Gleichmut zu entwickeln, ist unsere Fähigkeit uns zu freuen ständig in Gefahr und die Furcht wächst, nicht zu bekommen was wir uns wünschen sowie die Angst, es wieder zu verlieren, falls wir es bekommen haben.

Mit der richtigen Einstellung können wir dem Entstehen und Vergehen der Dinge ruhig zusehen und sorglos unsere Vorlieben pflegen und alles Mögliche anstreben.

Wenn wir unser Leben auf der Erde als Ausbildung sehen, wirken die meisten Ereignisse nicht mehr sinnlos, völlig willkürlich und frustrierend. Wer dies nicht begreift, wird immer wieder enttäuscht, ärgerlich, ängstlich auf Unvorhergesehenes reagieren. Diese menschliche Grundsituation nicht zu verstehen öffnet dem Leiden Tor und Tür. Auch die  – manchmal nur kurz andauernden – verführerischen und betörenden Momente können eine solche Herausforderung sein.

Wie übe ich richtig?

Wichtig! Lernen braucht Zeit! Gelassenheit ist eine Lebensaufgabe. Lass dir Zeit!

Rechne mit Rückschlägen!

  • Du wirst immer mal wieder ins alte Stressmuster zurückfallen. Keiner ist vor Abstürzen gefeit. Es ist lediglich ein Zeichen, dass man einen Lernprozess begonnen hat, das beinhaltet Fortschritte sowie Rückschritte. Es ergeben sich immer wieder unvorhergesehene Situationen und man wird wieder zum Anfänger. So bleibt man aufmerksam. Jeder Tag ein Neubeginn, jeden Tag neue Geduldsübungen.

Die innere Balance zu verlieren ist nicht das Problem. Es kommt darauf an, wie oft es passiert und wie lange ich brauche, um zur Mitte zurückzufinden.

Alles, was uns begegnet, kann ein Test sein. Mit dieser Lernhaltung kann uns nichts so leicht herunter ziehen, wir können uns als SchülerInnen des Lebens betrachten. Ein ideales Training ist es, sich in eine Umgebung zu begeben, die uns herausfordert, um unsere Toleranz zu stärken, hier kann ich herausfinden, wie weit ich in meinem Lernprozess gekommen bin. Man sollte sich aber auch nicht permanent einer Umgebung aussetzen, die von Stress und Dramatik geprägt ist. Wenn man sich aber nur an angenehmen und stressfreien Plätzen aufhält, kann man leicht dem Irrtum verfallen, dass man super gelassen ist. Wenn es dann einmal turbulent wird, ist es mit der Gelassenheit schnell vorbei. Gerade in schwierigen Momenten, wenn die Dinge schlecht laufen, muss sie sich beweisen, egal was passiert.

Gelassenheit ist ein Prozess. Immer wieder auf bekannte und unbekannte Situationen so gelassen wie möglich zu reagieren erfordert ständiges Üben, genauso wie in anderen Fachbereichen sollte man auch hier seine Fähigkeit vervollkommnen, indem man experimentiert und das vor allem mit Spaß und nicht verbissen.

Man kann praktisch alles lernen. Vielleicht wird man kein Meister darin aber gut genug. Wichtig sind eine gute Motivation, Selbstvertrauen, Know-how und Übung.

Jetzt kann es losgehen!

 

Wie geht es weiter?

Wir müssen vor allem zuerst mit einigen falschen Vorstellungen bezüglich Ruhe und Gelassenheit aufräumen:

  1. Wer nicht von Natur aus gelassen ist, der hat eben Pech gehabt!

Wir Menschen haben unterschiedliche Temperamente und Konstitutionen. Manche Menschen neigen zu mehr Unruhe und Nervosität und andere scheint gar nichts aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dennoch bedeutet das nicht, dass uns unsere genetische Veranlagung ein für allemal festlegt. Wir können uns ändern, indem wir uns bewusst ausgleichenden und beruhigenden Einflüssen aussetzen.

  1. Menschen, die immer ruhig sind und gelassen reagieren, sind langweilig.

Man sollte Ruhe und Langeweile nicht in einen Topf werfen. Es kann einen auf Dauer genauso langweilen, wenn Jemand ständig hysterisch oder überdreht reagiert, dramatisch und mit viel Getue alles aufbauscht. Diese unausgeglichen und nervösen Typen werden in  Gegenwart entspannter und gelassener Menschen schnell unruhig und werfen den anderen eher mal vor, langweilig zu sein. So können sie die Szene aufmischen und in ihrem vertrauten Stressklima bleiben.

  1. Erst eine Krise oder ein Zusammenbruch birgt die Möglichkeit, Gelassenheit zu lernen.

Es gibt Menschen, die erst nach einem Zusammenbruch erkennen, dass sie etwas in ihrem Leben ändern müssen. Doch gibt es viel mehr Menschen, die vorher begreifen, dass etwas nicht stimmt und sie eine neue Richtung einschlagen müssen. Nur ein bestimmter Typus liebt das Drama nicht nur im Theater, was sich aber im wahren Leben auf Dauer meist sehr ungut auswirkt.

  1. Wer immer gelassen ist, dem ist anscheinend alles gleichgültig.

Das kann tatsächlich vorkommen, nur handelt es sich hierbei in der Regel eher um eine Depression, die mit angenehmer Entspanntheit nichts zu tun hat sondern die Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen und zu handeln, blockiert. Besonnenes Handeln hat viel größere Chancen auf Erfolg und ist dem überstürzten, unüberlegten Eingreifen in der Regel vorzuziehen. Manch einer befürchtet , man könne so entspannt sein, dass man seine Probleme nicht mehr lösen wolle. Ist es nicht eher so, dass man unter Stress, Wichtiges von Unwichtigem nicht mehr recht unterscheiden kann und vieles problematischer erscheint als es in Wahrheit ist. Mit mehr Gelassenheit lösen sich stressbedingte Scheinprobleme in Luft auf und die echten Probleme werden bewusster wahrgenommen, man ist kreativer und findet bessere Lösungen.

Hier gehts zu Teil II


 

mamaportraitDas Leben ist unberechenbar und kostbar. Jeder Tag eine Herausforderung. Ich treffe die Entscheidung, die Herausforderung anzunehmen oder den Kopf in den Sand zu stecken.

Vor dieser Entscheidung stand ich, als ich mit der Diagnose Brustkrebs konfrontiert wurde. Von heute auf morgen herausgerissen aus einem aktiven Leben.

Ich bin von Beruf Gymnastiklehrerin, hatte mir durch verschiedene Zusatzausbildungen als Rückenschullehrerin, Entspannungstrainerin, Nordic Walking Coach sowie Tanzpädagogin eine Selbständigkeit aufgebaut. Sowie Ausbildung als Lebensberaterin mit Schwerpunkt Seelsorge, was ich vor allem ehrenamtlich in unserer Gemeinde ausübte.

Was nun? Nach dem ersten Schock, die Entscheidung, ich werde alles tun, um mein kostbares Leben so gut es geht zu behalten. Es war ein Weg durch die Hölle, mit OP, Diagnose: „aggressivste Krebsform, genetische Disposition“ und ganz klar: Chemo, Bestrahlung=das volle Programm. Ich nahm die Herausforderung an und habe gewonnen: bisher 3 kostbare Jahre, Anfangs voller Angst, Schmerz, Kampf, Erschöpfung – dann immer mehr Hoffnung, tiefer Friede, Blick auf die Ewigkeit und die Tiefe und Weite des uns zur Verfügung gestellten Lebens-Raums. Menschen und Gebete, die mich begleitet haben, meine Tochter Dorothee, die mir viele praktische Anregungen gab und gibt und mir durch ihre eigene Geschichte gezeigt hat, was alles möglich ist, dem der glaubt und vertraut und mutig der Herausforderung der Vielfältigkeit des Lebens begegnet. Ich darf hinfallen, aber sollte nicht liegen bleiben, sondern immer wieder aufstehen, auch wenn die Knie zittern. Das tue ich Tag für Tag und gewinne. ~Gabi Rieß


 Auszüge aus dem Buch von Thomas Hohensee „Gelassenheit beginnt im Kopf“

ergänzt mit einigen persönlichen Erfahrungen

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